Archive for Juli 2013

ECMC 2013

Europameisterschaft der Fahrradkuriere in Bern, also warum nicht?! Nachdem besagte Veranstaltung im letzten Jahr in Edinburgh wohl nicht nur aufgrund der widrigen schottischen Wetterbedingungen eher als Reinfall galt, hatten sich die diesjährigen Organisatoren vom Velokurier Bern einiges vorgenommen und ein entsprechend gut organisiertes und lohnenswertes Event angekündigt. Da der Schweizer an sich ja als ziemlich zuverlässig gilt und auch der Kontakt mit Hauptorganisator Luki bereits im Vorfeld äußerst nett war, machte sich eine vierköpfige Reisegruppe aus Leipzig auf den Weg Richtung ECMC2013. Ohne jetzt großartig vorgreifen zu wollen, kann ich auf jeden Fall sagen, dass sie nicht enttäuscht wurde. Die Fülle an positiven Überraschungen war allerdings derart enorm, dass es gewissermaßen schon fast als zwingend erscheint, all dies mit jenen zu teilen, die zuhause geblieben sind, womit nun auch dieser ausschweifende Bericht legitimiert sein sollte.
(Wissenschaftliche Anmerkung: Die Bezeichnung als „Bericht“, welche zumindest ansatzweise eine objektive Berichterstattung voraussetzt, sollte zweifelsfrei auch trotz der nachfolgenden enthusiastischen Lobhudeleien legitimiert sein, vergleicht man einfach, dass die Sucheingabe „Bern ist der geilste Ort der Welt“ auf stolze 5.390.000 Treffer kommt, während „Scheiß Schweiz“ mit 3.830 Google-Ergebnissen allemal als Randnotiz fungiert. Stand: 01.07.2013)



Vorbereitung und Abfahrt

Hier bekam man wieder einmal vor Augen geführt, wie gut organisiert Chaos sein kann. Vorbereitung ist eben alles. Nachdem Nicolé rechtzeitig die Maximalmengen an Alkohol, die wir straffrei in die Schweiz einführen dürfen recherchiert, Danny besagte Menge in Form von Pfeffi besorgt hatte und auch die Bitte unseres Schweizer Gastgebers, wir mögen doch bitte jeder ein „Schlaftütli“ mitbringen, beherzigt wurde, indem sich alle Beteiligten kurzfristig entsprechende Utensilien zusammenliehen, schienen wir für alles gerüstet. Als ich dann allerdings mit dem Rad bei Sixt vorfuhr, um unseren Mietwagen abzuholen, wurde mir dargelegt, dass wir aufgrund akuten Fahrzeugmangels (Wer hätte das bei einer Autovermietung erwartet?) „upgegradet“ wurden und wir statt eines simplen „großen Kombis“ nun einen „groß motorisierten Kombi“ erhalten würden. Der erste Blick in den relativ sparsam bemessenen Kofferraum des Audi A4 versprach auf jeden Fall eine Menge Spaß, aber der gemeine Amerikaner würde sich da auch nur zu einem lapidaren „Boda, Boda!“ hinreißen lassen. Muss ja. Unter voller Beanspruchung meiner Erfahrung im Packen von Tourbussen und frühkindlicher Tetriserfolge schaffte ich es dann auch in nur knapp 30 Minuten vier vollständige Fahrräder, Gepäck von vier Personen, Alkohol in nicht unbeträchtlicher Menge und vier Personen, welche die vormals genannten Dinge auf Schweizer Boden in Anspruch nehmen wollten so zu verstauen, dass sich tatsächlich alle Türen schließen ließen und durch ein ausgeklügeltes Rotationssystem das Absterben diverser Körperpartien vermieden werden konnte. Abfahrt. Gottseidank hatten wir mitgedacht und für die knapp 800km stolze zwei CDs eingepackt. Eine von Nick verbrochene Mix-CD, die all jene Radiosender Lügen strafte, die von sich behaupten, sie würden „das Beste der Achtziger, Neunziger und von Heute“ über den Äther jagen (der Moment, in dem wir die Grenze passierten und zeitgleich das Eröffnungspfeifen von Wind of Change erklang kann wahrhaftig nur als erhaben bezeichnet werden) und eine Original-CD mit den „schönsten Liedern der FDJ“, die uns ein lokaler Kurierdienstbetreiber vor Abfahrt noch extra aus seinem schier unendlichen Fundus aus Quatsch übergab. Spätestens nach dem dritten Durchgang fühlte sich selbst der aus dem freien Westen zugezogene Teil der Reisegruppe als wahrer Pionier und wir wissen jetzt auch, wie das damals mit der Erdgasleitung bei Ohrenburg war. Danke dafür. Nach 600km hatten wir irgendwie auch verstanden, wie das Navi funktionierte und pünktlich dazu stand auch Bern bereits auf den Wegweisern – was nicht heißt, dass man nicht trotzdem mal falsch abbiegt.



Lorraine, Bern: reale Utopie (Mittwoch)

Und schon sind wir mittendrin im Geschehen, in Bern, in der Lorraine. In Bezug auf unseren Schlafplatz wurde uns vom ECMC-Kollektiv mitgeteilt, wir seien bei einer freundlichen und etwas älteren Wohngemeinschaft in der Nachbarschaft einquartiert und sollten einfach nett und sauber sein, aber das sei für uns Deutsche ja sowieso kein Problem. Aha. Die Adresse ist gefunden und schon begrüßt uns Gastgeber Peter, der uns in einen Innenhof bittet, welcher mehr an mediterrane Urlaubsanlagen erinnert denn an 68er-Revolution. Schnell stellt sich heraus, dass es sich hier weniger um eine WG handelt, sondern vielmehr um ein kollektives Wohnprojekt über mehrere Häuser und sich das Attribut „alt“ nur bedingt auf die Bewohner anwenden lässt. Zwar sind die 12 Personen bereits zwischen 55 und 80 Jahren alt, aber nicht nur im Geiste noch verdammt jung und offen, was sich in den folgenden Tagen noch mehrfach bestätigen wird. Man weist uns einen weiträumigen Gästetrakt mit zwei Schlafräumen, einem eigenen Kochbereich und einem separaten Bad zu. Sogar der Kühlschrank ist bereits mit Getränken gefüllt, an denen wir uns zum Selbstkostenpreis bedienen dürfen. Kurz darauf finden wir uns mit Peter im Innenhof wieder, die 80-jährige Marcelle gesellt sich dazu und wir erfahren, wie sehr sich die gesamte Bewohnerschaft darüber freut, dass die ECMC in ihrem Viertel ausgetragen wird. Für das Hauptrennen am Samstag wird sogar der zentrale Bereich der Lorraine (ein Quartier, welches man sich als Leipziger mentalitätsmäßig wohl so vorstellen muss, dass Connewitz das Einkommensniveau von Schleußig hat) vollständig für den motorisierten Verkehr gesperrt. Dies wurde allen Anwohnern wohl vor einigen Monaten bereits von den Organisatoren mitgeteilt, woraufhin unsere Gastgeber sich nicht über die potentielle Einschränkung ärgerten, sondern sofort Kontakt zu den Veranstaltern suchten, um ihren Gästebereich für all die erwarteten ausländischen Kuriere anzubieten. Unsere Stimmung schwankt zwischen Unglauben, Verwirrung und Dankbarkeit. Nach einer kurzen nächtlichen Runde, die uns auch im Dunkeln jene in Leipzig vollkommen unbekannte Topographie (i.E. Steigungen und Gefälle) bemerken lässt, einem entspannenden Bier an der Aare und den letzten Entladungen der in achtstündiger Fahrt aufgebauten geistigen und körperlichen Zwangshandlungen fallen wir zufrieden in unsere Schlaftütlis.



Bern, Bären und Alleycat (Donnerstag)

Wir sind extra bereits am Mittwoch angereist, damit wir den Donnerstag noch voll dazu nutzen können, die Stadt richtig kennenzulernen und ein bisschen Urlaub zu machen. Wir lassen also mal den deutschen Touri raushängen, sichern uns per Handtuch einen Platz auf einem Velo (um weltmännischer zu wirken wird für den Rest unseres Schweiz-Aufenthalts diese weitaus schönere Bezeichnung verwendet) und machen uns auf den Weg quer durch die Stadt. Wenn man es gewohnt ist, dass die meisten Autofahrer nicht nur ihr Gefährt sondern auch die gesamte Verkehrsinfrastruktur als Privateigentum betrachten („Tempolimits empfinde ich als persönliche Beleidigung!“), bekommt man hier vor Augen geführt, wie sehr eine vernünftige Infrastruktur und eine Mentalität gemäß derer das Auto vorrangig einfach ein Fortbewegungsmittel ist, für ein entspanntes Leben sorgen. Es gibt Radschutzstreifen, die diesen Namen tatsächlich verdienen, nahezu jeder Autofahrer lässt einen freundlich passieren und alle paar Meter erinnern auch auf großen Hauptstraßen aufgezeichnete Fußgängerüberwege daran, dass die Stadt den Menschen gehört. Schon ganz geil. Es ist in weiten Teilen so harmonisch, dass wir uns kaum trauen, so zu fahren wie in Leipzig. Müssen wir ja auch gar nicht. Im Laufe unserer Erkundungstour streifen wir durch die Altstadt, in der zeitgleich die Mountainbike-EM stattfindet, kreuzen auf Brücken immer wieder die Aare, die sich mit ihrem kristallklaren Wasser, das so sauber ist, dass man es tatsächlich trinken kann, durch das Tal schlängelt und besuchen die Bären, von denen sich der Name der Stadt ableitet. Da an unserem Schlafplatz bereits vor unserer Ankunft eine extra für die ECMC-Teilnehmer gedruckte Karte hinterlegt wurde, in der alle wichtigen und schönen Punkte der Stadt eingezeichnet sind, finden wir sogar wieder zurück und Nick zudem noch ein Velogeschäft (ebenfalls eingezeichnet), wo man ihm kostenfrei sein kleines Komfortproblem – ohne Sattel fahren, weil zum zweiten Mal in zwei Tagen den Sattelklemmbolzen abgebrochen, weil ungeschickt – behebt.
Zurück im Quartier geht's zur Registrierung, wo sich mittlerweile auch weitere Angereiste eingefunden haben. Besonders ins Auge fallen zwei nette Typen aus Lausanne (glaub ich), die mit einem fixed Tandem da sind und bei denen man sich in den folgenden Tagen noch öfter fragt, ob die eigentlich alles zusammen machen und auch zu zweit Kurier fahren. Wir lernen Luki endlich persönlich kennen, der nochmal betont, wie sehr er sich freut, dass „sogar Menschen aus Leipzig“ gekommen sind. Bei der Anmeldung erhalten wir eine vollgepackte Tüte mit ECMC-Mütze, Flickzeug, Getränke- und Essensgutscheinen, Karten und ne Menge mehr. Ordentlich. Danach heißt es weiter abhängen, sozializieren und misstrauisch den Himmel beäugen, während man auf das Alleycat wartet. Dieses war für 20:30 angekündigt und – hier zeigt sich das Gemüt einer Nation von Uhrenbauern – startet um 20:30. Allerdings nicht alleine. Wie uns von mehreren Freunden mitgeteilt wurde, wütete an besagtem Donnerstag in weiten Teilen Deutschlands ein massives Gewitter, das ganze Straßenzüge überschwemmte. Naja, in der Schweiz auch. Hier ist sogar das Wetter pünktlich. Was soll ́s. Wir lassen es uns nicht nehmen, verlieren im Laufe der folgenden zwei Stunden zwei Karten an den Regen, müssen daraufhin die letzten zwei Checkpoints ausfallen lassen, gehören aber überraschenderweise zu den knapp zehn Startern, die überhaupt ein lesbares oder zumindest noch ansatzweise existentes Manifest abgeben. Der nette Herr am Ziel verweist lachend auf den enormen Haufen durchgeweichten Pappmatschs auf dem Tisch und freut sich über die gesparte Arbeit bei der Auswertung. Wir können längst in unseren Schuhen schwimmen und sind sehr froh darüber, dass es von der Partylocation nur ein paar Velominuten bis zu unserem Domizil sind, so dass wir mal eben rüberfahren können. Mit nassen Klamotten hin, rein, mit nassen Klamotten und voller Tasche zurück zur Party. Wer braucht denn schon trockene Socken, wenn man zwei Flaschen Pfeffi hat. Da das Bier natürlich zum Schweizer Lohnniveau ausgeschenkt wird, sind beide Flaschen in soliden 30 Minuten geleert, die beiden Damen neben unserem Treppenplatz betrachten das Schauspiel etwas verunsichert, die Stimmung steigt und unser beliebtes Partyspiel des gegenseitigen Antäuschens von Küssen geht auch schon mal über das Ziel hinaus. Auch Luki und einige andere erfreuen sich an unserem Getränkeangebot samt mitgeliefertem Unterhaltungsprogramm, das wohl weitaus interessanter ist als die sterbenslangweilige Pseudo-Creed-Coverband. Irgendwann bricht sich bei Nick und mir die Punk-Sozialisierung Bahn und wir schaffen es, die Welt für einige Zeit ein Stückchen schöner zu machen und nehmen aus sozialer Verantwortung den „Seht-mich-an-wie-künstlerisch-ich- bin-weil-ich-so-einen-individuellen-Retro-Hut-anhabe“-Hut des ebenso künstlerischen/individuellen Sängers an uns, der in seiner „Professionalität“ gefangen wohl nichts einwenden kann. Ob er ihn irgendwann wieder bekam, ist nicht weiter bekannt, aber wohl auch nicht weiter von Belang. Vor der Tür regnet es immer noch. Passt ja, weil wir immer noch nass sind. Also ab aufs Velo und Pseudorennen zum Schlafplatz. Wie zur Hölle wir das in dem Zustand hinbekommen haben konnte am nächsten Morgen leider nicht mehr rekonstruiert werden. Bett. Schlaftütli. Koma.



Side-Events, Ausfahrt, Regen die Zweite (Freitag)

So langsam kommt das Programm richtig in Gang und es werden auch zusehends mehr und mehr Fahrer. Gerade aus Deutschland und allen Teilen der Schweiz tummeln sich mittlerweile einige in der Lorraine. Auf dem Weg zur Location erfreuen wir uns erneut an der Topographie der Stadt und schaffen im gemütlichen Mittreten laut Nicks Tacho mal eben 54km/h mit ner Menge Luft nach oben. Kennt man sonst ja gar nicht. Während ich mich mit technischen Problemen rumschlage, die gar keine sind und zusammen mit zwei Fahrradmechanikern nach dem Ursprung eines nicht identifizierbaren, aber umso nervigeren Klackerns mache, das letztendlich banal aus Dreck auf den Speichenkreuzungen stammt, verpassen wir den größten Teil des Sprints, können aber immerhin noch feststellen, dass auch hier Professionalität und Ordnung oberste Priorität haben – Lichtschrankenmessung inklusive. Der anschließende Skidcontest ist zwar nur von geringer Teilnehmerzahl, aber Qualität ist definitiv besser als Quantität. Und wenn bereits der erste Starter im Wheelie quer durch die Menge anfährt, bevor er zu einem 70-Meter Skid ansetzt, muss man wohl nicht mehr viel dazu sagen. Es sei denn... Ja, es sei denn ein durchgeknallter Vogel schafft es für einen Moment sich von seinem Zwilling zu lösen, um alleine auf dem bereits erwähnten Tandem anzutreten. Schreiend und mit einem quer über die gesamte Straßenbreite ausbrechenden Heck schafft er es meines Wissens nach sogar kurz an die Spitze der Wertung. Naja, die Tandemklasse hat er sowieso gewonnen. War wohl auch sein Ziel. Nebenan wird frische Pizza gereicht und nebenbei erwähnt, dass beim Goldsprint auf der anderen Flussseite bisher erst zwei Personen gefahren sind und dieser in einer knappen Stunde schließt, woraufhin wir den Plan fassen, Europameister im Goldsprint zu werden. Knapp dran vorbei, war schon zu. Egal.
Immerhin sind wir damit dann auch direkt am Treffpunkt für den geplanten Midsummer Rideout. Vorher gibt es noch einen Trackstandcontest mitten auf der Viertelhauptstraße mit ca. 50 Teilnehmern, der sich auch von der hupenden Mutti im Golf nicht stören lässt. Der Dame wird wohl auch ziemlich schnell klar, dass das grad ne relativ dumme Idee war, sie dreht kurzerhand ab und nach endgültiger Aussortierung der Stehenden geht es auch schon los. Mittlerweile sind es etwa 150 Fahrer, überall sieht man riesige Kuriertaschen mit Firmenaufdruck und man fragt sich zuweilen, wie manch eine Firma bei der Präsenz hier überhaupt noch ihr Tagesgeschäft regeln kann. Ab auf die Straße, über die Aarebrücke und rein in die Innenstadt. Es ist wie eine Critical Mass nur mit Menschen, die Velo fahren können. Geil. Es geht am Bahnhof vorbei, dann rechts ab und irgendjemand, der wohl Ortskenntnisse besitzt, bemerkt nebenbei, dass das doch nicht der richtige Weg zum angegebenen Ziel sei. Aber auch diese Verwirrung legt sich wenige Augenblicke später, als wir einen zentralen Marktplatz erreichen, das Music-Velo voll aufdreht und eine der Organisatorinnen per Megafon den sich bereits formierenden Foot-Down verkündet. Genialer Schachzug, um endlich einmal alle potentiellen Fahrer für so ein Event zu motivieren und für die umstehenden und offensichtlich verwirrten Passanten ein amüsanter Anblick. Auch hier ist die Tandem-Crew wieder ganz vorne dabei und heizt voll durch. Die beiden werden immer sympathischer. Nach knapp zehn Minuten Kreisgerempel geht es wieder weiter, ab durch die Stadt, raus aus der Stadt, ab durch die Vororte und rein in die Landschaft. Die Gruppe ist wirklich gewaltig und es ist toll, auch in dieser Formation entspannt ein vernünftiges Tempo fahren zu können. Dann wird es so langsam steiler. In Vorbereitung auf die Ausfahrt wurde darum gebeten, man möge sich doch bitte mit Grillgut versorgen, da man einfach einen kleinen Ausflug mit Picknick machen werde.
Auch auf Nachfrage wurde noch einmal bestätigt, dass es nur um eine kleine Spritztour von knapp zwölf Kilometern gehe. Was dabei unter den Tisch fiel war lediglich die Info, dass auf der Hälfte dieser Strecke gut 500 Höhenmeter zu bewältigen sind und der Grillplatz auf einem Berggipfel im Umland liegt... Das Feld zieht sich immer weiter, wer schalten kann, fährt längst im kleinsten Gang. Die ersten fangen an, über die gesamte Wegesbreite Schleifen zu ziehen, um die Steigung besser bewältigen zu können, während andere längst schieben. Es ist ein Kampf, aber irgendwie auch geil. Nachdem wir vor kurzem erst den Brocken besiegt haben, sollte das hier eigentlich auch kein unüberwindliches Problem darstellen. Doch damals wusste man ja zumindest, was auf einen zukommt. Wir fragen uns bei jeder Serpentine, wann denn endlich nach der nächsten Kurve das Ziel kommt. Schleifen ziehen, treten, weiter. Dann endlich gibt es einen Punkt, an dem die ersten stehen und den Blick über die Landschaft genießen. Durchatmen; bis es auf einmal heißt, dass wir erst auf der Hälfte sind. Besonders bitter für Nicolé die genau in dem Moment dort ankommt, als es heißt „Weiter!“. Zwischendurch schiebe ich für hundert Meter das Tandem an. Die Typen sind fertig in jedem Sinne. Dann sind wir da. Und es hat sich gelohnt. Oben erwartet einen bereits Musik, vier große Grills, eiskalte Getränke und ein riesiger Aussichtsturm, der einen phänomenalen Blick über den Schweizer Jura bietet. Während die Fahrt noch im Körper nachhallt und Bier und Essen ihre beruhigende Wirkung entfalten, wird vor diesem Panorama wohl allen gewahr, wie gut es ist, am Leben zu sein und solche Möglichkeiten zu haben. Bei der anschließenden Abfahrt fängt es an zu regnen, was nicht unbedingt zur Sicherheit beiträgt. Am nächsten Tag hören wir noch, dass sich wohl einige zwischendurch abgepackt haben oder direkt die unfreiwillige Abkürzung übers Feld nehmen mussten. Wir suchen zusammen mit einer größeren Gruppe aus Basel Unterschlupf in einem Gasthaus, lernen die hiesige Spezialität Kaffee-Schnaps kennen und erfahren einiges interessantes über die Kuriersituation in der Schweiz. Das gesamte System ist dort wohl um einiges akzeptierter als in Deutschland, so dass eine Firma in einer Stadt wie Basel mit ca. 170.000 Einwohnern mal eben über 100 Kuriere beschäftigt. die Schweiz wirkt immer attraktiver. Dann Rückfahrt, Regen, Kneipe, Schlaftütli. Fit sein für den großen Tag.



Main-Race, Aare, ein Viertel in Bewegung (Samstag)

Wir sind relativ früh auf den Beinen und es wurde auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es keinerlei Erbarmen bei Verspätungen gebe, immerhin sei man in der Schweiz. Also stehen wir pünktlich um 09:00 auf der von Autos befreiten, mit Velos gefüllten Lorrainestraße und harren der Dinge, die da kommen. Bereits jetzt sammeln sich die ersten Schaulustigen und der Reiz einer Meisterschaft in einem normalen Stadtviertel ist absolut offensichtlich. Die letzten Fahrer radeln noch einmal die Strecke ab, alle Checkpoints sind aufgebaut und die Nervosität steigt. In einer ersten Qualifikation müssen nacheinander zwei Manifeste gefahren werden, die entsprechenden Lieferungen sprengen zuweilen auch mal die Grenzen unserer Taschen und das komplizierte Einbahnstraßensystem tut sein übriges. Jedem von uns klopft das Herz deutlich, als er zu Luki geht, um sich für den Start zu melden. Auch hier wieder größte Genauigkeit: Jeder kann jederzeit nach Belieben starten und bekommt seine individuelle Startzeit vermerkt. Den Zettel in der Hand springe ich aufs Velo, mache einen ersten Plan, erste Lieferung eingesammelt, ab zur ersten Auslieferung, und merke, dass ich mich da grad irgendwie gewaltig verplant habe. Egal. Weitermachen und rausholen was geht. Nach den ersten Stationen ist man voll drin und tritt einfach weiter. Entlang der Lorrainestraße stehen jetzt ganze Gruppen von Kindern und Familien, die einen jedes Mal wenn man vorbeifährt frenetisch anfeuern. Weiter geht ́s. Erstes Manifest abgeben. Zweites Manifest. Fahren. Abholen. Liefern. Ende. Durchatmen. Nach 100 Minuten bin ich durch.
Wir landen alle mehr oder weniger Im Mittelfeld, doch das ist fast egal. Die aktuelle Rangliste wird nahezu zeitgleich per Beamer veröffentlicht und schnell ist klar, dass keiner von uns ein zweites Mal antreten muss. Da hier aber bereits die Quali so viel Spaß gemacht hat und man in jeder Sekunde merken konnte, wie viel Arbeit und Planung in dieses Projekt gesteckt wurde, sind wir mehr als zufrieden und freuen uns bei einem Bier. Mittlerweile haben sich die Wolken verzogen und die Sonnenstrahlen erinnern uns an den Tipp, den uns nahezu jeder Berner gegeben hat: „Springt in die Aare und lasst euch treiben!“ Nachdem wir dies anfangs für einen schlechten Scherz gehalten haben, immerhin hat der Fluss nahezu eine solche Geschwindigkeit wie der Rhein, wurde uns immer wieder auch von den ältesten unserer Gastgeber gesagt, dass es absolut üblich ist und sie selbst das natürlich regelmäßig machen. Also ab ans Wasser. Dort treffen wir auf ein paar Kuriere aus Frankfurt und Berlin, die das Erlebnis schon hinter sich haben, woraufhin sich unsere Angst vor einem drohenden Tod in den Fluten oder einem naheliegenden Wehr zumindest etwas reduziert. Also Klamotten ablegen und erst mal laufen. Nach ein paar hundert Metern flussaufwärts finden wir einen netten Einstieg und ab geht ́s. Es ist in etwa so wie die Wildwasserbahn im Vergnügungspark – nur halt ohne Sitzplatz. Man muss einfach nur darauf achten, irgendwie über Wasser zu bleiben, die Fortbewegung übernimmt der Fluss. Wir ziehen an zahlreichen Spaziergängern vorbei und überholen auch den einen oder anderen Velofahrer. Innerhalb kürzester Zeit sind wir wieder auf Höhe unserer Klamotten und halten uns so gut es geht an diversen Haltegriffen fest. Jetzt merkt man erst, wie die Strömung an einem zerrt. Sonne. Trocknen. Ab zum Finale.
Mittlerweile ist das ganze Viertel bzw. Quartier zum Straßenfest mutiert. Alles ist voller Menschen. Über 1000 Zuschauer drängen sich auf den Straßen, über den Flohmarkt, an diversen Ständen vorbei und überall sieht man komplette Familien mit ECMC-Velomützen. Wie auch immer die Veranstalter es geschafft haben, ein derartiges Event so positiv bei der breiten Masse zu etablieren, sie haben ganze Arbeit geleistet. Während die Schlangen an den Getränkeständen immer länger werden, formiert sich so langsam die Finalistengruppe. 40 Männer und 10 Frauen starten zeitgleich. Nach einer kurzen Ansprache von Luki, der noch einmal auf die genaue Einhaltung der Einbahnstraßenregelungen pocht, geht es los. Von einem klassischen Schrittmacher-Moped angeführt dreht die gesamte Gruppe eine Runde über die Strecke, woraufhin in einem fliegenden Start auf der Hauptgeraden vom Publikum die Manifeste überreicht werden. Schon in den ersten Minuten wird offensichtlich, auf welchem Niveau hier gefahren wird. Das Grundtempo ist beachtlich und die Zeit, die an den Checkpoints verbracht wird, ist auf ein Minimum reduziert. Manche klicken nicht einmal aus, sondern schaffen die gesamte Übergabe in wenigen Sekunden. Wir stehen an einer zentralen Kreuzung, an der aus gleich drei Richtungen die Finalisten anrauschen, während immer wieder Zuschauer und Anwohner die Strecke passieren. Um die Situation zu entschärfen, regelt ein netter Typ in Warnweste in bedingtem Maße das Geschehen und weist die Fahrer auf potentiellen Querverkehr hin. In der Zwischenzeit dreht er allmählich immer weiter auf, steigert sich in Kombinationen aus Tanzen, Anfeuern und Verkehrsregelung und bedenkt auch regelmäßig die Anwohner auf ihren Cityrädern mit frenetischem Jubel. Zuweilen gibt es verdienten Szenenapplaus für ihn, während die Partystimmung steigt. Wie gut unsere Ortswahl war zeigt sich, als wir die wohl interessanteste Aktion des Tages vor unseren Augen erleben. Einer der Fahrer kommt um die Kurve geschossen, setzt kurz auf, die Funken fliegen, er fängt sich wieder und gibt Gas, während noch das erste Raunen durch die Menge geht und ein lauter Knall folgt. Wir sind erst im Begriff zu realisieren, dass ihm da grad der Reifen geplatzt ist, schon bremst er bereits leicht ab, springt währenddessen vom Rad und dreht es noch in voller Vorwärtsbewegung auf den Sattel, um den Schaden zu beheben. Der Sattel ist noch nicht auf dem Boden, als bereits ein ausgeschiedener Fahrer mit seinem Velo vom Rand der Strecke angerannt kommt, das defekte Gefährt fällt zu Boden, der Wechsel geht fliegend und das Rennen ist wieder in vollem Gang, während die Umstehenden noch versuchen, zu begreifen, was sie da grade gesehen haben. Die Meisten hätten den Abschnitt wohl selbst in voller Fahrt nicht schne>ller passiert. Unfassbar. Nach fünf Manifesten ist alles vorbei und die Menschen verteilen sich auf der Strecke. Es scheinen noch einmal mehr geworden zu sein. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen und in der Lorraine zu sein. Wir decken uns mit ECMC-Merch ein und ziehen durch die Straßen. Die Siegerehrung wird von einer riesigen Masse verfolgt und bejubelt. An allen Ecken ist irgendetwas los. Es spielen Bands, an anderer Stelle gibt es auf der Straße ein Electro-Openair. Überall fröhliche Gesichter und wir mittendrin. Über den Rest des Abends sollten wohl nicht mehr viele Worte verloren werden, allenfalls noch, dass die Ansage an eine Tresenkraft „Gib mir dafür so viel Bier, wie du irgendwie verantworten kannst“ bei einer Veranstaltung von Kurieren für Kuriere durchaus folgenschwer sein kann. Irgendwie haben wir aber alle den Weg ins Schlaftütli gefunden.



Adieu! (Sonntag)

Während die ersten Sonnenstrahlen unsere Matratzen erhellen, erwache ich nach soliden drei Stunden Schlaf und treffe im Hof auf Marcelle (nochmal zur Erinnerung: knapp 80 Jahre alt. Ich hoffe ich vertue mich da nicht und sie war erst 75. Sollte das der Fall sein, tut es mir sehr leid. Gewirkt hat sie ja sowieso allenfalls wie 45), die strahlend fragt, wie es denn gestern noch gewesen sei und ob wir noch viel getanzt haben, schließlich sei sie ja bereits gegen 23:30 nach Hause, konnte aber ja noch hören, dass es noch länger ging, um dann noch einmal hinzuzufügen, dass es doch toll sei, wenn so etwas im Viertel los ist. Beim Abschlussbrunch haben sich die Reihen bereits deutlich gelichtet, aber wir sind froh über die Stärkung und die Möglichkeit unsere Abfahrt so weit wie möglich hinauszuzögern. Wir erleben noch die Abstimmung über den Austragungsort der ECMC2014. Nächstes Jahr heißt es also ab nach Stockholm. Abschließend werden noch eine Menge übriggebliebene Preise unter den Übriggebliebenen verteilt, wir nehmen noch einen letzten Kaffee zur Stärkung, packen nochmal beim Abbau an und dann heißt es Tetrispacken, Aufräumen und Adieu. Nach einer Rückfahrt ohne besondere Vorkommnisse, mit zwei gut vertrauten CDs und gefühlt 3cm mehr Platz als auf der Hinfahrt sind wir bereits um Mitternacht wieder in Leipzig. Begleitet von dem Bewusstsein, Teil eines wunderschönen Events gewesen zu sein.




Alleycat (Kurze Kätzchen)

Donnerstag, 11. Juli 2013, 19 Uhr
Bundesverwaltungsgericht, Leipzig

Am Donnerstag Abend gibt's aus keinem besonderen Anlass ne spontane kurze Katze durch die Stadt. Start ist am BVG! Danach wird gegrillt und gechillt.

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